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Amine Haase

Zu den Zeichnungen von Christiane Löhr

Die Linien wachsen aus dem Papier, bis an den Rand des Blattes. Sie lösen sich auf in feinem Gespinst, das sich über die papier-begrenzte Fläche fortzusetzen scheint. Sie greifen wie Fühler den Raum ab, den ihnen das weiße Blatt vorgibt, und den sie gleichzeitig respektieren und überschreiten. Manchmal sind es nur wenige Linien, fast symmetrisch die Fläche teilend, manchmal wuchern sie fast unkontrolliert, verknäueln sich, um in heftiger Bewegung ans Blattende zu streben. Die Bleistiftzeichnungen von Christiane Löhr sind wie zarte Klänge, die anschwellen und sich im Äther verlieren, wie der Gesang der Lerche, der im immer höheren Aufwärtsschrauben schließlich den Ton des Horizonts trifft. more

Die Spuren, die Ölpastellstifte auf dem Büttenpapier hinterlassen, sind kräftiger. Die Biegsamkeit der Linien tritt deutlicher hervor. Aber welcher Strich im Vorder- und welcher im Hintergrund liegt, ist nicht klar zu erkennen. So kann man die leeren Flächen zwischen dem schwarze Liniengeflecht als weiße Lichträume wahrnehmen. Ein Wechselspiel von hell und dunkel, vorne und hinten, Fläche und Strich fesselt die Aufmerksamkeit. Ein Labyrinth der Möglichkeiten lockt das Auge auch hier über den Bildrand hinaus.

Es gibt Zeichnungen amerikanischer Minimalisten, die sich in späteren Arbeiten von der Strenge des Fast-Nichts und den harten Winkeln lösten. Formen der Natur sind ihr Vorbild. Brice Marden nennt eine Aquatinta-Reihe nach den Gärten von Suzhou, Lithografien von Ellsworth Kelly sind regelrechte Pflanzenstudien, Robert Mangolds Zeichnungen bekommen etwas Florales. Christiane Löhr, deren Skulpturen aus Gräsern, Blüten, Samen entstehen, geht quasi den umgekehrten Weg. Ihre Zeichnungen sind abstrakte Zeichen. Aber auch das abstrakteste Zeichen kann die Natur als Richtschnur der Erkenntnis nicht leugnen.

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